Altstadtsanierung

Aus Norder Stadtgeschichte
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Grundsteinlegung der Neuen Heimat (1968).

Als Altstadtsanierung wird im allgemeinen Norder Sprachgebrauch die ab August 1968 begonnene Flächensanierung der Altstadt zwischen Am Markt und Am Hafen bezeichnet, die den Verlust des Großteils der historischen Bausubstanz in den dortigen Bereichen hatte. Den Baumaßnahmen, für die der Grundstein am 29. August 1968 gelegt wurde, fielen zahlreiche historisch bedeutsame Bauwerke zum Opfer und die kleinteilige Struktur der noch mittelalterlichen Straßenzügen wurde unwiederbringlich zerstört. An Stelle der für Norden typischen und heute noch beispielsweise am östlichen Burggraben erkennbaren Straßenzüge mit Reihenhäusern wurden im Rahmen eines niedersächsischen Modellprojekts schlichte, dem damaligen Zeitgeist entsprechenden Mehrparteienhäuser (Wohnblocks) errichtet.

Im weiteren Sinne werden unter der Bezeichnung Altstadtsanierung auch weitere Baumaßnahmen zusammengefasst, die jedoch nicht die Zerstörung, sondern den Erhalt der historischen und für die Stadtgeschichte unverzichtbaren Gebäuden und Strukturen zum Ziel haben. Derartige Baumaßnahmen wurden zuletzt im großen Stil in den späten 2000er und frühen 2010er Jahren durchgeführt. 2009 wurde die Stadt in das mit ihren für die Altstadt geplanten Sanierungsmaßnahmen in das Städtebauförderungsprogramm des Landes und des Bundes aufgenommen. Zum Tragen kam dabei die Programmkomponente Städtebaulicher Denkmalschutz. Im Rahmen des Programms wurden Fördermittel bereitgestellt, um die erkannten städtebaulichen Missstände zu beseitigen. Insgesamt umfasste das Sanierungsgebiet eine Fläche von 28,9 Hektar.

Geschichte

Vorgeschichte

Die gesamte Norder Innenstadt war historisch betrachtet ein sehr eng bebauter Komplex aus den unterschiedlichsten Gebäuden. Dies liegt darin begründet, dass die hochwassersichere Norder Geestinsel, auf der die Kernstadt entstand, nur begrenzten Platz bot, zugleich aber immer mehr Menschen in den wohlhabenden und aufstrebenden Marktort zogen. Noch bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren dennoch viele Häuser eingeschössig.[1] Die kleinteilige Struktur lässt sich heute noch insbesondere an der innerstädtischen Osterstraße sowie dem Neuer Weg erkennen. Für letzteren markant ist neben der engen Bebauung auch die Tatsache, dass sich die Grundstücke sehr lang nach hinten ziehen, aber die jeweilige Gebäudebreite in der Regel nicht überschreiten. Zwischen den Häusern existierten manchmal kleine Lohnen (Gassen) zur Anlieferung von Waren, manchmal wurden diese direkt mit einem Flaschenzug auf den Speicher (meist auf dem Dachboden) gehievt.

Das aus baugeschichtlicher und architektonischer Sicht katastrophale Altstadtsanierung hatte pragmatische Gründe, die die Maßnahmen der Planenden und Durchführenden in ein etwas besseres Licht rücken könnten: Der Zweite Weltkrieg hatte zu einer umfangreichen Vertreibung deutscher Staatsbürger aus den (ehemaligen) deutschen Ostgebieten wie Königsberg, Pommern, Ost- und Westpreußen sowie Schlesien (heute Polen, Tschechien und teilweise Russland) geführt. Die Vertriebenen kamen vor allem in Baracken wie denen im Vertriebenenlager Tidofeld unter oder wurden - nicht selten gegen den Willen der Besitzer - in Bauernhöfen, Wohnhäusern oder Geräteschuppen einquartiert. Die Wohnungsnot war enorm und da die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik ab den 1950er Jahren immer stärker florierte, war genug Geld da, um dafür zu sorgen, dass jedem eine adäquate Wohnung angeboten werden kann. Bundesweit mussten über 16 Millionen Heimatvertriebene zusätzlich mit Wohnraum versorgt werden mussten, die anfangs häufig einquartiert worden waren. Von den 18,3 Millionen Wohnungen und Häusern im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 lagen etwa 2,3 Millionen in den abgetretenen Gebieten östlich von Oder und Neiße. Von den verbliebenen 16 Millionen Wohnungen und Häusern waren rund 2,5 Millionen total zerstört und 4 Millionen in unterschiedlichem Grad beschädigt. Viele Menschen mussten zunächst in Behelfsunterkünften wie den sogenannten Nissenhütten unterkommen. In Westdeutschland wurde auf den Wohnraummangel mit massivem Sozial- und Mietwohnungsbau sowie der Unterstützung von Wohneigentumsbildung reagiert, die durch günstige Kredite der öffentlichen Hand (z. B. über die staatliche KfW) unterstützt wurden. Dadurch wurde der Wohnungsraum zwischen 1950 und 1975 mehr als verdoppelt.

Das baufällige Vossenhus am 23. September 1967.

Anders als im Falle fast aller deutschen Großstädte und auch der Seehafenstadt Emden, das im Zweiten Weltkrieg wegen seiner Bedeutung für die Kriegsmarine sowie die Rüstungsindustrie praktisch gänzlich durch alliierte Bomben zerstört wurde, war Norden jedoch nur vereinzelt Ziel von Luftangriffen geworden und hatte den Krieg dementsprechend glimpflich überstanden. In Emden galt es nach dem Krieg, möglicht schnell und günstig neuen Wohnraum zu bauen, um den Ausgebombten ein Dach über dem Kopf bieten zu können. Die Planenden hatten daher weder die Zeit noch das Geld die historische Altstadt von Emden, die in ihrer Schönheit alle anderen ostfriesischen Städte mit Abstand in den Schatten stellte, zu restaurieren. In Norden war wiederum vor allem der damalige Zeitgeist Schuld daran, dass etliche historische Bauwerke unwiderruflich verlorengingen. Man wollte das Alte hinter sich lassen und eine neue Stadt errichten; dadurch quasi den Schmutz der Vergangenheit abstreifen. Denkmalschutz spielte damals noch praktisch keine Rolle und wenn, dann nur in den Köpfen einiger weitsichtigerer Mitbürger. Allerdings waren viele Gebäude auch derart heruntergekommen und nicht mehr zeitgemäß, dass oftmals gar keine Alternative zu einem Abbruch im Raume stand. Im Falle der Sielstraße, der Kirchstraße und der umliegenden Wege waren weder angemessene Energieversorgungsmöglichkeiten noch eine Kanalisation vorhanden. Die hygienischen Bedingungen dort waren katastrophal und wurden vom Stadtrat in ihrer Beschlusssitzung zur Flächensanierung vom 20 November 1962 gar als menschenunwürdig bezeichnet.[2][3]

Umsetzung

Kleinere Abbruch- und Sanierungsmaßnahmen fanden bereits Anfang der 1960er Jahre statt, so fiel etwa die rechte der Drei Schwestern bereits 1963 dem Bau von Parkplätzen zum Opfer.[4] Der Großteil folgte wenige Jahre später: Nach einiger Planung wurde am 29. August 1968 damit begonnen, zunächst die südlich des Marktplatzes gelegenen Gebäude abzureißen bzw. die Flächen dort regelrecht zu planieren.[3][5] Den Startschuss hierfür gab Bundeswohnungsbauminister Lauritz Lauritzen persönlich.[3] Euphemistisch nannte man die nun folgenden Maßnahmen Flächensanierung.

Der Flächensanierung fiel nahezu alle historischen Bauten der Sielstraße, der Kirchstraße, der Großen Lohne und Steenbalgen sowie der westlichen Uffen- und Heringstraße zum Opfer.[2][6] Das gemeinnützige, dem Deutschen Gewerksschaftsbund gehörende Bauunternehmen Neue Heimat sowie die Nordwestdeutsche Siedlungsgesellschaft ließen hier die bis heute bestehenden Mehrparteien- bzw. Hochhäuser errichten, der Bund stellte erhebliche Finanzmittel in Höhe von 50 Millionen DM bereit und erklärte das Projekt zu einem Studien- und Modellvorhaben.[2][7] Unbegreiflich ist, warum Stadtrat und Verwaltung in Anbetracht dieser für damalige Zeiten unfassbar hohen Summe nicht wenigstens einen Teil für einen Architektenwettbewerb aufgewandt wurden, der bestenfalls die Erhaltung der historischen Struktur bewirkt hätte.[8] Offenbar erhoffte man sich von Modellprojekt einiges an Prestige für die Stadt, erreichte jedoch letztlich genau das Gegenteil.

Neben den Hochhäusern legte man vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Kalten Krieges und der damit immer präsenten Gefahr eines nuklearen Erstschlags durch die Sowjetunion einen atomwaffensicheren Tiefbunker unter dem heutigen Jan-ten-Doornkaat-Koolman-Platz an. Der Bunker wird heute überwiegend als Tiefgarage genutzt, große Teile der Bunkeranlage wie Sanitär- und Maschinenräume sind nicht frei zugänglich. Theoretisch ist hier jedoch nach wie vor ein Überleben für etwa 3.500 Menschen möglich.[9]

Letztendlich wurde die kleinteilige, über Jahrhunderte gewachsene Struktur vollständig und unwiderruflich zerstört. Auch die Straßenverläufe wurden ganz oder teilweise verändert. Anhand des anliegenden Burggrabens lässt sich jedoch noch die ehemalige Bebauung, die vor allem aus derartigen, eingeschössigen Kleinhäusern, die eng an eng standen (dies nennt man Riege) bestand, nachvollziehen. Die Häuser dort entgingen nur knapp dem gleichen Schicksal, nachdem die Norder Bürgerschaft in erschreckendem Anbetracht der das Stadtbild verschandelnden Wohnblocks wachgerüttelt wurde. Statt den Burggraben ebenfalls zu planieren, entschied man sich hier für die Rettung und Sanierung der Häuserreihen.[10] Die letzten Sanierungsarbeiten wurde 1991 beendet, womit auch die Altstadtsanierung als Großprojekt zu den Akten gelegt werden konnte, wenngleich in den Folgejahren selbstverständlich weitere, kleinere Sanierungsmaßnahmen folgten.[11]

Bedrohte Gebäude

Vor allem den Initiativen einzelner Bürger sowie Gemeininitiativen wie dem Arbeitskreis für Stadterhaltung und -erneuerung ist zu verdanken, dass mehrere historisch bedeutsame Gebäude erhalten blieben. Unmittelbar vom Abriss bedroht waren folgende (erwähnenswerte) Gebäude:

Abgebrochene Gebäude

Wiedererrichtete Gebäude

Die rechte der Drei Schwestern wurde 1991 anhand von Bildaufnahmen originalgetreu wieder hergerichtet.[4]

Galerie

Einzelnachweise

  1. Canzler, Gerhard (1989): Norden. Handel und Wandel, Norden, S. 233
  2. 2,0 2,1 2,2 Haddinga, Johann (2001): Norden im 20. Jahrhundert, Norden, S. 78
  3. 3,0 3,1 3,2 Ostfriesischer Kurier (1999): Von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart (Sonderdruck), Norden, S. 59
  4. 4,0 4,1 Haddinga, Johann / Stromann, Martin (2001): Norden/Norddeich – Eine ostfriesische Küstenstadt stellt sich vor, Norden, S. 74
  5. Haddinga, Johann (2001): Norden im 20. Jahrhundert, Norden, S. 77
  6. Sanders, Adolf (1999): Norden - wie es früher war, Gudensberg, S. 44
  7. Leiner, Karl (1972): Norden. Gestern heute morgen, Norden, S. 50
  8. Haddinga, Johann (2001): Norden im 20. Jahrhundert, Norden, S. 79
  9. Kurzbeschreibung des Norder Tiefbunkers, abgerufen am 11. August 2021
  10. Sanders, Adolf (1999): Norden - wie es früher war, Gudensberg, S. 24
  11. Medienzentrum des Landkreises Aurich (Bildarchiv: 0270538.jpg)

Siehe auch